Die Entwicklung der Brass Band

In den letzten Jahrzehnten hat sich die britische Brass Band Bewegung in Europa weit verbreitet und immer mehr Anhänger gefunden. Man muss Brass Bands als einen Teil des englischen Lebens überhaupt bezeichnen. Unsere Meinung von der Brass Band ist häufig sentimental und öfters stereotyp. Dabei ruft ihre Geschichte starke soziale Bilder hervor und gibt eine faszinierende Einsicht in die Entwicklung der Blechblasinstrumente.

Brass Bands – in Grossbritannien eines der populärsten Medien für Musik, angefangen von TV-Übertragungen bis zu den Platzkonzerten in den entlegensten Ortschaften. Kurz: es gibt nichts, was für das öffentliche Musikleben typischer wäre als Brass Band.

Die geschichtliche Entwicklung der Brass Band zeigt, dass sie aus militärischen Blasorchestern entstanden ist. Englands Industrialisierung im 19. Jahrhundert und die Anfänge der Brass Band Bewegung können etwa gleichzeitig angesetzt werden. Die Musik half den Fabrikarbeitern des 19. Jahrhunderts, ihre undankbare Arbeit und kümmerlichen Lebensverhältnisse zu vergessen, war gleichzeitig ein gesunder und nützlicher Zeitvertreib und hatte zugleich einen therapeutischen Wert. Die höhere soziale Schicht mischte sich nur sehr selten unter die Musikanten, spendete jedoch sehr oft Geld für den Kauf von Instrumenten. Fabrik- und Minenbesitzer finanzierten mit Stolz ihre eigenen Werks Brass Bands, da sie sich der sozialen Bedeutung einer werkseigenen Kapelle bewusst wurden: Sie konnte Arbeiter anlocken und zur Werbung für die Erzeugnisse beitragen.

Viele dieser Kapellen existieren heute noch. Ihre Namen erinnern an die ursprüngliche oder auch heute noch vorhandene Firmenzugehörigkeit, z.B. Williams Fairey Engineering, Black Dyke Mills Band, CWS Manchester Band oder Carlton Main Frickley Colliery Band. Vielleicht fühlten sich die Fabrik- und Minenbesitzer manchmal erleichtert, dass ihre Arbeiter sich im ungefährlichen Musizieren übten, statt sich in der gefährlicheren Politik zu profilieren. Die ersten Bands waren aber nur den Männern und Knaben vorbehalten; so hatte die Ära der Arbeiter Brass Bands begonnen. Allmählich trat auch ein lebendiger, wetteifriger Geist in die Bandwelt ein. Für die Firmen waren die Bands so wichtig, dass sie sogar Inserate für Bläser aufgaben, z.B. 1887 John Murgatrouyd's Oats Royd Mills Band in Halifax:

 «Gute Cornet-, Horn- und Baritonbläser gesucht: gute Gelegenheit für Mechaniker, Weber, Wollsortierer, mit oder ohne Familie»!

Andere Bands spielten zum eigenen Vergnügen, und um nebenbei noch ein bisschen Geld zu verdienen. Als die Popularität der Blasmusik zunahm, erlernten viele Leute von anderen Mitgliedern der Familie ein Instrument. Die Distin-Familie unternahm viel, um die Idee der Bands zu unterstützen und zu verbreiten. John Distin (1798 – 1868) erzielte nationalen Ruhm als Keyed-Bugle-Bläser und Trompeter in der Armee. Er brachte seinen vier Söhnen das Spielen von Blechblasinstrumenten bei. 1835 traten sie als Quintett in Edinburgh auf, hatten aber nur begrenzten Erfolg, bis sie 1844 den Instrumentenmacher Adolphe Sax (1814 – 1894) trafen. Sax war fasziniert von der Idee, eine Instrumenten-Familie zu bauen. Die Distins übernahmen die Saxhörner in ihr Quintett und kamen dadurch zu grossem Erfolg. Leider meinten beide, Sax und Distin, der Erfolg wäre nur das Resultat ihrer selbst. In Wirklichkeit trugen vermutlich beide zum Erfolg bei, aber auch viele andere engagierte Blechbläser. In einigen Dörfern waren Bands eine Familienangelegenheit wie z.B. in der Bramley Band, Leeds (York Shire): 1826 – 1906 waren 15 Personen der Hesling-Familie Bandmitglieder! Brass Bands werden meistens als das «Northern Phenomena» betrachtet, fanden doch die meisten der Bandgründungen in der Nähe von Manchester statt. (Überall, wo grosse Ballungszentren sind, entstehen Bands.) Die Brass Band war ein Teil der Popularitätskultur. In der Zeit von 1860 – 1880 wurden sehr viele Brass Bands gegründet. Um 1890 schätzte man die Zahl der Brass Bands in England auf etwa 40 000. Genau gesehen waren es wohl nur 15 000 bis 20 000.

Zwei bedeutende Ereignisse haben zum Aufschwung der Brass Bands beigetragen: die Erfindung und Entwicklung der Ventile für Blechblasinstrumente und die Aufstellung der Saxhornfamilie, welche sich gemeinsam mit den Cornets, den Posaunen und den Waldhörnern (die später aus der britischen Brass Band entfernt wurden) als besonders leistungsfähig für Freiluftmusik gezeigt hatten. Die Idee der heutigen Form von Brass Band entstand bei der Great Industrial Exhibition 1851 in London. Dazu ein Kommentar der Illustrated London News vom 23. August 1851: «Die Ausstellung von Brass Instrumenten im französischen Teil der Ausstellung ist überdurchschnittlich gut. Unter den Ausstellern wäre zuerst Herr Adolphe Sax aus Paris zu erwähnen, bekannt in England und auf dem Kontinent als Erfinder des Saxhorns. » Bald entdeckten die Bands, dass sie in der Gemeinde für Anlässe gefragt waren. Einige der Musikerhatten Erfahrung in Militär- und Dorfbands, aber andere waren Anfänger mit einem grossen Spielenthusiasmus und wurden von den Bands angelernt. Militärkapellmeister bestimmten im Rahmen gewisser Richtlinien und der ihnen zur Verfügung gestellten Musiker und Instrumente die ersten Besetzungstypen für unterschiedliche Auftritte: Marsch-oder Konzertmusik, Tanz- und Unterhaltungsmusik. Die Musiker wechselten unter Umständen sogar die Instrumente. Details solcher Bands sind leider sehr spärlich. Generell handelte es sich um recht subjektive und zufällig zusammengewürfelte Gruppen. Die zivilen Bands orientierten sich an der Instrumentation von Armeespielen, aber spielten gewöhnlich mit einer kleineren Besetzung und ohne Oboen.

Am Beispiel der Stalybridge Band soll gezeigt werden, wie sich eine Band entwickelte: 1809 versuchte man, eine Band zu formieren: mit einer Flöte, einem Flagolet und einer Klarinette. 1814 war die Stalybridge Old Band mit folgenden Instrumenten besetzt: vier Flöten, vier Klarinetten, zwei Fagotte, eine Trompete, zwei Hörner, Keyed Bugle, Basshorn und Schlagzeug. 1819 wurde die Band durch Aufnahmen von einer Ophikleide, Cornopeans, vier Klarinetten und einem Serpent erweitert. Später bestand die Band aus neun Cornets, vier Hörnern, zwei Tenorhörnern, einem Euphonium, drei Posaunen, zwei Ophikleiden, zwei Bombardons und Schlagzeug. 

1857 wurde das britische Militärmusikwesen einer gewaltigen Reform unterzogen. Unter anderem wurde der bunten Menge von verschiedenen Besetzungstypen ein Ende bereitet. Die Artillerie und Kavallerie erhielten eine Brass Band Besetzung nach preussischem Muster. Das ist nicht verwunderlich, waren doch die beiden ersten Direktoren der Militärmusikschule Kneller Hall, Carl (Karl) Mandel († 1874) und Henry (Heinrich) Schallehn (1815 – 1891), Deutsche.1882 hatte die Stalybridge Band schon fast unsere heutige Instrumentierung: ein Sopran, drei Solo-Cornets, zwei Repiano-Cornets, je ein 2. und 3. Cornet, drei Flügel, drei Hörner, zwei Bariton, zwei Euphonium, zwei Posaunen, fünf Bässe und das Schlagzeug. Der allmählich wachsende Wohl- und Lebensstandard (halbfreier Samstag) ermöglichte es den Leuten, mehr Zeit zu haben, um sich zutreffen und zu musizieren. Bands traten bei jedem speziellen Anlass wie Blumenausstellungen, Gewerkschaften, Sonntagsschulen usw. auf. Besonders am Samstagnachmittag waren Tanz- und Marschmusik in den Parks sehr willkommen. Sie spielten ebenso gern eine Auswahl populärer Musik. In der Saddleworth-Ära von Lancashire mit ihrem Whit Friday March Contest hält sich diese Tradition noch immer. Auch die Heilsarmee hat grosse Bedeutung für die heutige BrassBand. General William Booth (1829 – 1912), Vater der Heilsarmee, verbesserte die Leistungsfähigkeit der Bands für die ruhigen Massentreffen seiner Heilsarmee. 1880 ging der Befehl an Offiziere und Soldaten der Armee, dass sie ein Instrument lernen sollten. 1886 gab es bereits 400 Heilsarmee Bands, welche die Heilsbotschaft vermittelten. Durch die wachsende Popularität der Brass Bands zur selben Zeit, beschritten auch Leute der Arbeiterklasse – die meisten von ihnen waren sehr arm und unterprivilegiert – diesen relativ einfachen Weg, um zusammen zu musizieren. Doch die Idee der Heilsarmee war, durch das Spielen und Interpretieren von Musik, die christliche Idee einer grösseren Masse vorzustellen. Einige der Gründer dieser Bewegung waren relativ kreative Komponisten. Erst von Richard Slater (1854 – 1939), dem Gründer der Heilsarmeemusik und selbsterfahrener Musikant, und später seinen Schülern Frederick George Hawkes (1868 – 1959) und Arthur Robert Goldsmith (1875 – 1948), erhielt die Heilsarmee Kompositionen von höherer Qualität. Die meiste Literatur kam von diesen Komponisten.

Viele Komponisten schlossen sich der Heilsarmee an, in der Hoffnung, ihre Werke würden veröffentlicht. Bramwell Coles (1887 – 1960), Herbert Twitchin (1874 – 1974), Erik Leidzen (1894 – 1962) und viele andere komponierten für die Heilsarmee. (Eric Ball schrieb bis zum Zweiten Weltkrieg für die Salvation Army.) Die Brass Bands der Heilsarmee brachten diese Musik auf Strassen und durch Familienbesuche in Spitälern durch ganz England. Die Heilsarmee hatte den Klang der britischen Brass Band über die ganze Welt verbreitet. 1914 war die Blütezeit der Brass Bands noch nicht vorüber, obwohl es schwierig wurde, Musiker für die besten Bands zu finden, wie die Yorkshire Zeitung schrieb: «Niemand kann wegen der Apathie der jungen Generation Bandleute finden.» Fussball, Kino, Pfadfinder usw. haben die junge Generation davon abgehalten. Die Wurzeln der Bandtradition trockneten aus. Durch nationale Krisen nach 1914 (Arbeitslosigkeit, Erster Weltkrieg) verlor man junge Spieler. Was früher als Einheit verbunden hatte, Karneval, Samstagnachmittagskonzerte, Protestmärsche, verschwand, und nach dem Krieg liess die Depression noch weniger Bands zu. In South Wales und Durham lösten sich Bands auf, weil Mitglieder wegzogen, um Arbeit zu finden. Sogar die erfolgreichsten Bands wie Fodens (ex. Britannia Building Society Band) waren gezwungen, als Strassenmusikanten aufzutreten. Bands waren übers Land verstreut, selbst dort, wo nur wenig Bandtradition vorhanden war. 1939 überlebten viele Brass Bands den Krieg nur, weil sie gelegentlich spielen durften. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wieder zahlreiche Bands gegründet, das Radio brachte ihre Musik, die Motivation stieg.

1952 gründete Dr. Denis Wright (1895 – 1967) die National Youth Brass Band, um frisches Blut in die Brass Bands zu bringen. Überall in England entstanden Jugendbands. 1938 wirkte Betty Andersonin Leicester Imerice mit 8 Jahren mit, und konnte als erste Frau 1978 den Belle Vue (Manchester) dirigieren. Heute sind ca. 25 Prozent Frauen in den Brass Bands aktiv tätig und akzeptiert. Jetzt existieren ungefähr 1500 – 2000 Brass Bands in England und die Anzahl nimmt auch in anderen Ländern zu, welche der britischen Instrumentierung und demselben Repertoire entsprechen. Sie blühen vor allem in der Schweiz, Norwegen, Australien und Neuseeland auf und auch die USA und Japan zeigen immer mehr Interesse.

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